Aktuelles vom Kreuzbund

Von Selbstheilung und Stigmatisierung

Informationen und Diskussionen auf der Multiplikatoren-Tagung "Junger Kreuzbund"

Die Multiplikatoren-Tagung „Junger Kreuzbund“ hat sich vom 16. bis 18. Februar 2024 in Münster mit dem Schwerpunktthema: „Selbstheilung bei Abhängigkeit und die Bedeutung dieses Themas für die Selbsthilfe“ beschäftigt. Können sich Suchtkranke ohne Hilfe von ihrer Sucht lösen? Nein! So denken viele. Dabei haben sie suchtkranke Menschen, die auf der Straße leben, vor Augen und sind beeinflusst von erschreckenden Berichten und Bildern von Suchtkranken in den Medien.

Aber auch der Blickwinkel der beruflichen Helfer*innen und die Erfahrungen der Menschen aus der Selbsthilfe, die jedoch mit ihren Angeboten gemeinsam nur ca. 10 bis 12 Prozent der Suchtkranken erreichen, tragen ihren Teil zu dieser Meinung bei. Diese Perspektiven erfassen jedoch nur einen kleinen Ausschnitt davon, was es heißt, suchtkrank zu sein. Die Suchtforschung zeigt seit Jahren: Selbstheilungen gibt es und sie sind in allen Fällen einer Suchterkrankung die häufigste Form der Heilung/Gesundung.

Die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren haben sich zunächst mit ihren eigenen Einstellungen und Überzeugungen auseinandergesetzt. Dazu galt es, sich über bestimmte Fragestellungen und Aussagen bewusst zu werden, darüber nachzudenken, sie zu diskutieren, zu überprüfen und sich zu positionieren:

  • Ist Selbstheilung möglich? Wie optimistisch – pessimistisch bin ich diesbezüglich?
  • „Einmal suchtkrank immer suchtkrank“: 1 (stimmt) …10 (stimmt nicht)?
  • „Abstufungen von der Sucht gibt es nicht. Man kann ja auch nicht ein bisschen schwanger sein“: 1 (stimmt) … 10 (stimmt nicht)?
  • „Bei Suchtkranken hilft Willenskraft und Selbstkontrolle nicht, um von der Sucht loszukommen. Das macht ja gerade die Krankheit aus“: 1 (stimmt) …10 (stimmt nicht)?

Mit einer Mischung von fachlichen Informationen und Diskussionen untereinander haben sich die Teilnehmenden diesen Fragen und ihren Antworten angenähert. Hier und da wurden persönliche Überzeugungen überdacht und korrigiert. Schließlich zeigen uns die ehemaligen starken Raucher*innen, die ohne professionelle Hilfe oder Selbsthilfe ihre Sucht beenden konnten: Selbstheilung ist möglich. Sie ist ein Lernprozess und eine Etappenwanderung, denn die wenigsten schaffen es beim ersten Anlauf! Und so wie die Wege heraus aus der Nikotinabhängigkeit verschieden sind, sind auch die Gesundungswege bei anderen Abhängigkeitserkrankungen verschieden.

Deutlich wurde auch: Die Bedingungen, Beweggründe, Auslöser und Strategien beim Ausstieg aus dem Suchtkreislauf unterscheiden sich gar nicht so sehr von denen der Menschen, die professionelle Hilfe und Selbsthilfe in Anspruch nehmen. Kein Wunder, knüpfen doch auch diese Hilfsangebote an die Selbstheilungskräfte und individuellen Ressourcen der Betroffenen an.

Fragt man die „Selbstheiler*rinnen“ selbst, warum sie keine Hilfe in Anspruch genommen haben, so wird deutlich, dass u.a. die Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung im sozialen Umfeld, die Sorge vor dem Verlust von Anonymität und die Hochschwelligkeit der Hilfsangebote eine Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund haben sich die Multiplikatoren im weiteren Verlauf der Tagung mit den Themen „Niedrigschwelligkeit der Angebote beim jungen Kreuzbund“ sowie „Selbst- und Fremdstigmatisierung von Suchtkranken“ beschäftigt.

Die Auseinandersetzung der Multiplikatoren während der Tagung war dicht, engagiert und bewegt: Persönliche Auslöser und Strategien für den Weg in die Abstinenz wurden besprochen und mit denen der Selbstheiler verglichen; Erfahrungen in der „jungen Selbsthilfe“ mit Hilfesuchenden, die hinsichtlich ihrer Abstinenzmotivation noch nach ihrem Weg suchen, wurden ausgetauscht; stabilisierende und hilfreiche Bedingungen zur Aufrechterhaltung der Abstinenz insbesondere für Menschen aus jungen Lebenslagen wurden diskutiert. Dabei waren sich alle einige: professionelle Hilfe und Selbsthilfe ist und bleibt ein Segen für die Betroffenen! Dennoch lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Thema „Selbstheilung“:

  • Die Forschungsergebnisse helfen, die stigmatisierenden Einstellungen der Bevölkerung zu suchtkranken Menschen zu korrigieren – müssen sie doch selbst nach Bewältigung ihrer Erkrankung noch mit Misstrauen und Ausgrenzung rechnen!
  • Die Botschaft, dass der Weg aus der Sucht über viele verschiedene individuelle Wege möglich ist, kann Risikokonsumenten, Suchtkranke und Angehörige ermutigen, sich frühzeitig(er) Hilfe zu holen, Suchtentwicklungen abkürzen und suchtbetroffene Menschen in der Hoffnung bestärken, viele Wege auszuprobieren und auszuschöpfen.
  • Die Forschungen zu „Selbstheilungen“ zeigen auf, dass ein „selbstheilungsfreundliches Umfeld“ enorm unterstützend ist. Einmal mehr gilt: Es ist nicht förderlich, dass Alkohol in Deutschland so leicht zugänglich ist, so dass es nicht nur Risikokonsumenten und suchterfahrenen Menschen schwerfällt, sich davon abzugrenzen.
  • Die Menschen in der Sucht-Selbsthilfe sollten ein realistisches Bild von suchtmittelabhängigen Menschen zeichnen und damit dazu beitragen, dass sich das Image von suchtkranken Menschen und Angehörigen in der Gesellschaft verbessert.

Zu all dem tragen auch die Sucht-Selbsthilfeverbände ihren konstruktiven Teil bei.

In der Abschlussrunde der Tagung zeigten sich die Teilnehmenden sehr zufrieden: Die wechselnde Mischung von Fachinformationen und Erfahrungsaustausch seien hilfreich; die Tagung sei motivierend, impulsgebend, entlastend und ermutigend gewesen; es sei spannend, neue, andere Sichtweisen und Haltungen zur Suchterkrankung kennen zu lernen; die Multiplikatoren-Runde sei familiär und wohltuend.

Marianne Holthaus, Suchtreferentin des Kreuzbund-Bundesverbandes

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